Wohnhaus mit Karton- und Papierwarenfabrik von Richard Weissenstein

   
Im Jahr 1909 entwarf Arthur Corazza für die Kartonagen- und Papierwarenfabrik ein Wohngebäude mit angrenzendem Produktionstrakt. Die Baugenehmigung wurde am 9. Juli 1909 erteilt. Die Kartonfabrik wurde nach Iglau von Smrčná u Jihlavy verlegt, wo das Unternehmen bereits 1893 vom jüdischen Unternehmer Alois Neumann für den Bedarf seiner dortigen Glashütte gegründet wurde und in gemieteten Räumen an der Adresse Nr. 11„U Abrahama“ betrieb er eine kleine Kartonproduktion. Im Jahr 1897 beschäftigte er zusammen mit Richard Weissenstein 20 Hilfskräfte, der als leitende Kraft arbeitete. Es war Weissenstein, der später den Architekten Corazza mit dem Entwurf des neuen Gebäudes in Iglau beauftragte. Um die Produktionskapazität zu erweitern, begann das Unternehmen mit dem Bau eigener Werkstätten und verlagerte die Produktion später nach Iglau. Der Grund für den Umzug war das Bestreben die Produktion näher an die Kunden in Iglau und an den Bahnverkehr zu bringen. Am 1. Januar 1910 übernahm Weissenstein offiziell dieses Unternehmen von Neumann.

Zur Zeit der Entstehung der Pläne wohnte die Familie Weissenstein bereits in der Straße Srázná Nr. 6 und 8. Richard Weissenstein (28. Mai 1876 Fryšava pod Žákovou horou – 20. Januar 1958 Herzlia, Israel) hatte mit seiner Frau Emma (geborenePollak (21. November 1879 Iglau – 22. November 1943 Theresienstadt) zwei Töchter, Helena (27. November 1903 Iglau – 15. Januar 2005) und Berta (3. März 1905 Iglau – 1977) und Söhne Theodor (9. Januar 1907 Iglau – 28. September 1944 Transport nach Auschwitz) und Rudolf (17. Februar 1910 Iglau – 20. Oktober 1992). In der Straße Srázná Nr. 10 wohnte ab 1912 auch Alois Neumann mit seiner Familie. Auch er ließ sich 1912 von Corazza eine Glashütte und eine Holzwarenfabrik in derselben Straße entwerfen. Das neue Unternehmen von Neumann spezialisierte sich auf Ess- und Rauchertische, Parfümflaschen und andere kleine Glaswaren. Die Gebäude stehen heute nicht mehr, waren jedoch bis vor kurzem Teil des Geländes in der Straße Srázná Nr. 40, Nr. 167.

Am südlichen Rand des Grundstücks der Kartonfabrik befand sich ein niedriges Produktionsgebäude mit einem Pultdach und in das Innere des Grundstücks gerichteten Fensteröffnungen. Das Gebäude verfügte über eine Außentoilette und 1908 ließ Weissenstein hier Elektrizität installieren. Der Architekt Corazza schuf einen zentralen, nach Norden offenen Hof, indem er im Westen ein erdgeschossiges Produktionsgebäude und im Osten, zur Straße Srázná hin, ein zweistöckiges Wohngebäude mit Mansarddach anfügte. Die ursprüngliche Produktionsstätte in Srázná wurde teilweise durch ein neues Fabrikgebäude ersetzt. Corazza entwarf das Gebäude so, dass an den Giebeln auf beiden Seiten weitere Gebäude angebaut werden konnten. Der Eigentümer erwarb später die südlich angrenzende Parzelle, dehnte die Produktion jedoch nicht darauf aus und schuf somit keine durchgehende Straßenlinie. Das Wohngebäude selbst erhielt eine dekorative Jugendstilfassade mit lokal angebrachter Keramikverkleidung in Azurblau. Das massive, geometrisch verzierte Eingangstor wies auf die Passage und weiter auf den Innenhof. Die Fenster wurden durch kleine Oberlichter geteilt und mit Zahnschnitt verziert. Im Wohngeschoss hoben sich zwei gerundete Risaliten mit Fenstern vom Profil der Fassade ab. Das hohe Mansarddach wurde durch Dachgauben mit ellipsenförmigen Fenstern ergänzt. Der Architekt hat im Untergeschoss eine Kutscherstube, Küche und einige andere Räume untergebracht. Im Erdgeschoss trennte ein zentraler Durchgang den Wohn- und den Betriebsteil: Der Betriebsteil umfasste einen Abstellraum und ein kleines Arbeitszimmer, während der zweite Teil eine Zweizimmerwohnung mit Küche, Toilette und Badezimmer sowie eine Treppe enthielt, die in den Innenhof mit einem kleinen gerundeten Risalit führte. Im ersten Stockwerk befand sich die Wohnung des Fabrikbesitzers und seiner großen Familie – hier befanden sich die Küche mit Speisekammer, Toilette, Spiegelzimmer, Wohnzimmer, Kinderzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer und Wohnzimmer mit Zugang zu einer kleinen Terrasse mit Blick auf den Innenhof. Die Wohnräume waren zur Straße orientiert, das Arbeitszimmer und das Büro des Fabrikbesitzers zum Produktionshof. Auf dem erhöhten Dachboden des Mansarddachs befanden sich die Waschküche, Trockenraum, Mangel und Toilette. Die Verbindung des Wohngebäudes mit dem Produktionsteil wurde durch einen Lichtschacht, der durch alle Stockwerke führte, und eine zweite Wendeltreppe im industriellen Stil mit einem an den Säulen verankerten genieteten Geländer hergestellt. Der Bau wurde von August Österreicher durchgeführt und auf dem Portal über dem Haupteingang kann man die Jahreszahl 1910 lesen.

Die Gebäude für die eigentliche Herstellung und Verarbeitung von Papierprodukten waren erdgeschossig und nicht unterkellert, nur in der nordwestlichen Ecke wurde ein Raum für einen Keller für Koksbrennstoff geschaffen, um das abschüssige Gelände zu ebnen. Im September 1911 plante August Österreicher den Bau von Pferdeställen und einer Wohnung für den Kutscher im Innenhof. Die Pläne für die Errichtung der Fabrik zur Herstellung von Militärkleidung in großem Maßstab gehen auf den Herbst 1915 zurück. Auf diese Weise brachte Österreicher 30 Nähmaschinen in den Altbau ein, die synchron an den Zentralmotor angeschlossen waren. Im Jahr 1927 baute der Baumeister Emmanuel Lang im Hoftrakt zusätzliche Räume zur Erweiterung und für neuere Ausstattung ein. Im Jahr 1929 wurden zwei Lagerhallen fertiggestellt und im Mai 1934 wurden die Stallungen zu einer Autogarage umgebaut, in der die Motorräder der Mitarbeiter abgestellt werden konnten.

In der Fabrik, die Papier und verschiedene Kartons verarbeitete, waren über 120 Personen beschäftigt. Zu einer Produktionsspezialität sind faltbare Papierschachteln geworden, die flach versandt wurden, so dass die Kunden sie selbst falten konnten, um bei Lagerung und Transport Platz zu sparen. Zu den Kunden gehörten die Strickwaren-, Schuh-, Textil-, Lederwaren-, Knopf-, Schmuck-, Süßwaren- und Parfümindustrie. Als Prokuristin, d.h. als die Person, die berechtigt ist, im Namen des Eigentümers zu handeln, trat Frau Emma Weissenstein auf. Mit der Fabrik konnte man auf Tschechisch, Deutsch, Französisch und Englisch kommunizieren. So funktionierte es noch 1933, aber einige Jahre später war alles anders.

Durch den Wegfall des Außenhandels und die Zerstörung der Schuhfabriken verlor Weissenstein vor dem Zweiten Weltkrieg einen großen Teil seiner Kunden und musste die Produktion stark reduzieren. Schon in der Zweiten Republik war die Situation nicht angenehm und die jüdischen Bürger erfuhren Unrecht. Zu Beginn des Protektorats, am Morgen des 30. März 1939, wurde die Synagoge durch einen Brand beschädigt und Richard Weissenstein nahm als Vorsitzender der jüdischen Kultusgemeinde Iglau an der Erstellung des Protokolls aus der Verhandlung über das weitere Schicksal des ausgebrannten Gebäudes teil. Die Verhältnisse begannen fast überall zu eskalieren. Iglau fiel wieder in deutsche Hände und jüdische Unternehmen wurden arisiert, d.h. das Eigentum von Personen jüdischer Herkunft wurde enteignet und in die Hände „arischer“ Verwalter und anschließend oft auch Eigentümer übertragen. Vor der geplanten Aussiedlung musste Weissenstein den gesamten Besitz an den Oberlandrat abtreten und zum Kommissar des Werks wurde Hans Grimshandel. Auch die Treuhandbank sendete ihren Treuhänder ins Werk. Weissensteins Bestreben, die Prokura einer Person aus der Fabrik zu übertragen, also jemandem, der sich mit der Produktion auskennt, stieß auf Ablehnung. Das Ehepaar Weissenstein wurde nach Theresienstadt deportiert. Während des Protektorats beherbergte das Wohnhaus ein Arbeitsamt, das von Dr. Löffel geleitet wurde.

Die Befreiung von Theresienstadt 1945 erlebte nur der siebzigjährige Richard Weissenstein. Dieser kehrte kurzzeitig nach Iglau zurück, um seine Geschäfte wieder aufzunehmen und mehrere jüdische Vereine zu erneuern, was jedoch letztlich nicht gelang. Im Jahr 1948 wurde die Fabrik verstaatlicht und in das nationale Unternehmen Moravskoslezské papírny Olomouc eingegliedert, woraufhin Weissenstein nach Israel auswanderte. Im Jahr 1953 wurde das Gebäude im Hof in Büroräume für den Lebensmittelgroßhandel umgewandelt; die Wohnung im ersten Stockwerk wurde damals in mehrere kleinere Einheiten aufgeteilt. Im April 1956 wurden Pläne für einen umfassenden Umbau des Gebäudes mit dem Anbau einer Druckerei erstellt. Die Fertigstellung des Produktionsteils erreichte das Niveau eines Wohnhauses und über den Wohnungen wurde ein erhöhter Bühnenbereich mit einem Klubraum errichtet. Auch die Zeitung Jiskrawurde hier gedruckt. Im August 1968 besetzten sowjetische Soldaten die Druckerei und schütteten die Buchstaben für den Handsatz auf einen Haufen zusammen, so dass die Zeitung nicht produziert werden konnte. Nach 1989 orientierte sich die Druckerei auf Buch- und Werbedrucksachen um, und die Buchdrucktechnik wurde durch die Offsettechnik ersetzt. Nach dem Konkurs der Druckerei gingen die Gebäude in den Besitz eines neuen Eigentümers über, der sie in Wohneinheiten umwandeln will, wobei die ursprüngliche Vorderseite des Wohnhauses erhalten bleiben soll.

FK
Literatur und sonstige Quellen 

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