Villa von Louis und Anna Seidner

   
Der freistehende Neubau des Einfamilienhauses von Louis und Anna Seidner wurde auf einem Grundstück im allmählich entstehenden Straßennetz rund um das Gelände des Krankenhauses errichtet. Louis Seidner (1870–1943) stammte aus einer jüdischen deutschsprachigen Kaufmanns- und später Industriellenfamilie. Louis' älterer Bruder Emil Seidner gründete 1897 in der Březinovy sady Nr. 2 am Fluss eine Strickwarenfabrik für Strümpfe und andere Waren. Bei ihm sammelte der jüngere Louis Erfahrungen in der Branche und gründete 1910 eine Partnerfirma mit Otto Adam, dem Direktor einer anderen Strickwarenfabrik. Zwischen den Partnern bestand auch eine Verwandtschaft, denn ihre Ehefrauen Anna Seidner (1881–1935) und Ella Gabriela Adam waren Schwestern und stammten aus der Familie Pollack. Im Jahr 1931 kaufte die Firma Otto Adam&Louis Seidner die Schuhfabrik Humanicin der Straße Havlíčkova und richtete dort eine Strickwarenfabrik ein. Bald darauf baute die Familie Adam ihre eigene Villa in der Straße Vrchlického Nr. 12, allerdings in einem völlig anderen Stil. Für den Entwurf ihrer neuen Residenz wählten die Seidners den Prager deutschsprachigen Architekten Adolf Foehr, der bereits mehrere bedeutende Projekte in Prag und in der Grenzregion realisiert hatte. Foehr etablierte sich vor allem als Projektant von Bankgebäuden und Wohnhäusern für deutschsprachige wohlhabende Kunden. Das 1908 gegründete Planungsbüro von Foehr im Prager Stadtteil Holešovice war eines der größten in Prag.

Für den Iglauer Fabrikanten entwarf Foehr eine großzügige Villa im klassizierenden Stil im Garten. Mit der Bauleitung wurde Emanuel Lang aus Iglau betraut. Äußerlich zeichnet sich die Villa durch ein Minimum an dekorativen Elementen und symmetrisch verteilten Volumen mit fünf halbkreisförmigen Risaliten an den Seiten mit Glockendächern aus. Das Haus wird von einem massiven Mansarddach bedeckt. Im hinteren Teil öffnet sich zum Garten ein Wintergarten mit einer oberen Terrasse im Obergeschoss. Die innere Disposition und die Einrichtung sind typisch für englische Familienhäuser, die sich durch eine Eingangshalle mit Kamin und eine Treppe zu den oberen Stockwerken auszeichnen. Die Halle des Hauses war bis zum Obergeschoss mit einer Holzvertäfelung versehen, das Treppenhaus mit Geländer, alle Türen und die Kaminverkleidung waren ebenfalls aus Holz. Von der Halle ging es weiter in einen großen Salon und das angrenzende Esszimmer. Eine Glasschiebetür trennte ein Herrenzimmer auf der Südseite von der Halle. Die gleiche Tür finden wir auch zwischen dem Esszimmer und dem Salon. An die Ostseite des Hauses schloss sich im Erdgeschoss ein Wintergarten an, von dem man über zwei Außentreppen in den Garten hinabsteigen konnte. In den Haupträumen wiederholt sich die Holzvertäfelung. Das gesamte Haus wurde unter Berücksichtigung der ursprünglichen Ausführung vollständig renoviert, einschließlich der Innenholzvertäfelung und der Gebäudefüllungen. Die Villa war durch einen Zaun mit zwei Toren von der Straße abgetrennt, an der nördlichen Reihe des Hauses schloss ein Anbau mit einer Garage und der Wohnung des Hausmeisters an.

Louis Seidner war in mehreren Vereinen gesellschaftlich aktiv. Adolf Foehr war mit ihm durch seine Mitgliedschaft im rezessionskritischen Verein Schlaraffia verbunden. In Iglau waren seine Mitglieder ab 1887 unter dem Namen Iglavia vereinigt. Der Verein konnte als ein Spiel mit eigenen Regeln angesehen werden, die Organisation war ähnlich wie bei den Ritterorden. Jedes Mitglied hatte einen Spitznamen, Sitzungsprotokolle wurden oft in Versen verfasst, die Vereine hatten ihren eigenen Kalender und eine Reihe von erfundenen Wörtern, so dass es heute schwierig ist, einige der Bedeutungen zu verstehen. Ziel des Vereins war es, soziale Beziehungen, Freundschaften und vor allem Humor zu fördern. Die Mitglieder interessierten sich auch für Literatur und Musik. Die Sprache war Deutsch. In seiner größten Blütezeit zählte Schlaraffiain Iglau etwa fünfzig Mitglieder. Aufgelöst wurde der Verein wahrscheinlich noch vor dem Zweiten Weltkrieg.

Nach der Besetzung im März 1939 mussten die jüdischen Eigentümer nach Prag umziehen. In ihrem Haus wurden die Wohnung des Leiters der Iglauer Gestapo Emanuel Sladek und das Hauptquartier der SS eingerichtet. Louis Seidner starb 1943 im Konzentrationslager Treblinka in Polen. Zumindest seine Kinder, sein Sohn Robert und seine Tochter Františka, konnten sich durch die Emigration vor den Nazis retten. Emanuel Sladek wurde vom Volksgericht in Iglau zum Tode verurteilt und 1947 hingerichtet. Nach dem Krieg wurde das Haus zum Staatsbesitz. Es hat mehrere Mieter gehabt. Von 1952 bis Anfang der 90-er Jahre beherbergte es ein Säuglingsheim. Später wurde das Haus im Rahmen der Restitution an die Erben von Louis Seidner zurückgegeben, die es zu Beginn des Jahrtausends an neue Eigentümer verkauften.

JL
Literatur und sonstige Quellen 

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