Seit den 90-er Jahren wird die Entwicklung der Industriearchitektur von spezialisierten Planungsbüros bestimmt, die in der Lage sind, das richtige Betriebskonzept, die entsprechende Raumanordnung und wirtschaftliche Baukonstruktionen zu entwerfen – und gleichzeitig die Anforderungen an das Aussehen des entstandenen Werks zu erfüllen. Das erfolgreichste Büro dieser Art in Österreich-Ungarn wurde 1908 von Bruno Bauer in Prag gegründet und obwohl er es drei Jahre später nach Wien verlegte, befindet sich der Großteil seiner Werke in den böhmischen Ländern. Er selbst gibt an, an mehr als 380 Projekten gearbeitet zu haben, doch bisher konnten nur 75 seiner Bauwerke oder ganze Produktionsgelände zuverlässig identifiziert werden, von denen 14 nicht mehr existiere. Bauer studierte in den Jahren 1899 bis 1908 Hochbau an der Technischen Hochschule Prag und war einer der Schüler von Josef Melan, dessen Konzeption eines Stahlbetonskeletts mit starrer Bewehrung er weiterentwickelte. Zum ersten Mal wandte er die mit gusseisernen Rohren verstärkten Säulen praktisch an, die in den Jahren 1902 bis 1908 von Melans älterem Schüler Fritz Emperger (1862–1942) entwickelt worden waren und verbesserte sie. Im Laufe der Zeit gelangte er zu den ursprünglichen Skelettkonstruktionen, bei denen die vorgefertigten gusseisernen Säulenkerne, die durch starre Stahlumhüllungen mit der Betonschale verbunden sind, den größten Teil der Last tragen, während die Balken und Träger in eine selbsttragende Schalung aus Lochblechen gegossen werden, die gleichzeitig als Bewehrung dient. Bauer konnte seine praktischen Erfahrungen auch theoretisch formulieren. In die vom deutschen Werkbund angestoßene Debatte über das Verhältnis von Ingenieurwesen und Architektur schaltete er sich 1914 mit seinem Vortrag Das Problem des Industriebaus ein, der später in Form eines umfassenden Essays veröffentlicht wurde. Hier definierte er den Industriebau als „Stein und Eisen gewordenes Betriebsdiagramm“ und knüpfte damit nicht nur an die Haltung des Theoretikers Hermann Muthesius an, sondern auch an die neuesten wissenschaftlichen Methoden amerikanischer Fabrikprojektanten. Mit seiner eigenen Version der diagrammatischen Darstellung des Betriebs entwarf Bauer während des Ersten Weltkriegs das Gelände der elektrotechnischen Fabrik im steirischen Weiz, vor allem jedoch mehrere strategisch wichtige Munitionswerke. Baulich-authentisch ist davon nur eine weiträumige Anlage im heutigen Mosonmagyaróvár erhalten, in der mit Hilfe der Plasma-Technologie Stickstoff aus der Luft gewonnen wurde. Ein ähnlich komplexes Werk von Bauer war die heute nur noch teilweise erhaltene Textilfabrik der Berliner Aktiengesellschaft Deutsche Wollwaren-Manufaktur, erbaut in den Jahren 1923 bis 1924 im niederschlesischen Grünberg. Eine typische Tätigkeit von Bauer in der Nachkriegszeit war jedoch die Neuorganisation von bestehenden Geländen und ihre Ergänzung um ein neues Gebäude, in dem die Vorbereitungs- und Finalisierungsprozesse der Herstellung konzentriert wurden – Beispiele dafür sind authentisch erhaltene Etagenbauwerke in Brünn in Špitálka und Červený Kostelec. Zu diesen Investitionen gehörten oft auch separate Gebäude von Textilfärbereien, für die Bauer ab 1910 Dächer, doppelwandige Spitzpfeiler aus Stahlbeton entwickelte. Das älteste erhaltene Beispiel ist wahrscheinlich die Färberei, die nach Bauers Projekt 1923 in Brünn in Špitálka, auf dem heutigen Gelände von Mosilana, gebaut wurde, wo sie an ein ähnliches, jüngeres Gebäude von Bauer angrenzt. Nach dem Krieg gelang es ihm, seine Position als unabhängiger Fachmann in Österreich sowohl organisatorisch als auch gesetzgeberisch zu etablieren: 1925 gründete er die österreichischen Zweigstelle der Fédération Internationale des Ingénieurs-Conseils– FIDIC und in den Jahren 1931 bis 1934 war er Präsident der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland. Er war ein Anhänger des technokratischen Denkens sowie des Gedankens der Vereinigung europäischer Staaten von Richard Coudenhove-Kalergi. Nach dem Anschluss Österreichs wurde das Wiener Büro von Bruno Bauer liquidiert. Er starb noch im selben Jahr, kurz nach seiner Emigration nach London, am 21. Dezember 1938.
LB
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Industriearchitekt
Bruno Bauer -
Geburtsdatum
30. 11. 1880 Wien -
Todesdatum
21. 12. 1938 London
Baumwollspinnerei Spinnfabrik Teesdorf A. G., Parzelle Nr.163/2, Bruno Seitz-Wohnpark 41.Teesdorf, 1908
Kammgarnspinnerei Hlawatsch & Isbary, Parzelle Nr.196/2, Dukelská ulice, Kraslice, 1909
Spinnerei für kardiertes Garn der Wollwarenfabrik Aron & Jakob Löw-Beer's Söhne, Nr.6, Parzelle 272, Brněnec, 1909
Weberei Enoch Kern's Sohn, Žižkova Nr. 4318/53, Jihlava, 1909
Bortenweberei Franz Gabler, Parzelle Nr. 484, Textilní ulice, Krnov-Opavské Předměstí, 1912
Kesselhaus der Firma Erste Brünner Maschinenfabrik-Gesellschaft, Parzelle Nr. 1/7, Kuklenská ulice, Brno-Židenice, 1912.
Werkstattgebäude der Firma Ericsson, Pottendorfer Straße 25–27, Wien XII, 1913
Maschinenwerkstatt und Gießerei Tannwalder Baumwollspinnfabrik A. G., Krkonošská 149, Tanvald, 1913 und 1922
Gelände ELIN A. G., Elingaße, Weiz 1915–1922 Bekleidungswerkstätten Offermann, Quittner, Schoeller & spol., Šumavská416 /15 und 598 / 15a, Brno-Královo pole, 1915
Zuckerfabrik von Oscar Bondy, Osvobození 277, České Meziříčí, 1915
Umbau und Erweiterung des Gebäudes der Weberei Enoch Kern's Sohn, Parzelle Nr. 180, Jihlava-Staré hory, 1916 (?)
Stickstoffgewebefabrik, Fertősor Straße, Mosonmagyaróvár, 1916–1918
Textilfabrik Deutsche Wollwaren-Manufaktur A. G., Wrocławska 17b, Zielona Góra, 1923
Barevna a. s. Vereinigte Wollwarenfabriken, Parzelle Nr. 88/2, Špitálka 12, Brno-Trnitá, 1923
Färbefabrik David Hecht, Parzelle Nr. 85/4, Špitálka 10, Brno-Trnitá, 19126–1930
Spinnerei und Weberei Přípravna tkalcovny a. s. Červenokostelecké a erlašské přádelny a tkalcovny, Parzelle Nr.267/13, Náchodská, Letná, Červený Kostelec, 1927
Úpravny, skladiště a kanceláře a. s. Sdružené továrny vlněného zboží, Špitálka 60/ 12, Brno‑Trnitá, 1927
Literatura:
Bruno Bauer, Das Problem des Industriebaues. Zeitschrift des Österreichischen Ingenieur‑ und Architektenvereines LVIII, 1916, č. 15, s. 289–296 a č. 16, s. 309–314.
Günther Schmick, Bewehrungsskelette für Eisenbetonbauten: Bauweise Dr. Ing. Bauer: Patente von Bruno Bauer, Wien 1932.
Ute Georgeacopol‑Winischhofer, Vom Arbeitshaus zur Großindustrie. Zur Geschichte des Industriebaus von den Anfängen bis in die Zwischenkriegszeit in der Wiener Leopoldstadt. Wien 1998, s. 78–79.
Lukáš Beran, Bruno Bauer a industriální architektura v českých zemích. Praha 2016.